Die Brücke von Fukien

Der Lo Yang Fluss in Fukien war einer der breitesten und gefährlichsten Flüsse in China. Große Kähne, beladen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, fuhren aus dem Herzen Chinas den Fluss hinunter. Große Schiffe von fernen Ländern fuhren den Fluss hinauf. Die breite Mündung des Hauptflusses bot dem Wasser viele Wege. Auch der Fluss selbst war gefährlich wegen seiner starken Strömungen und seinen Strudeln. Viele starben in dem trügerischen Gewässer und jeder Versuch, eine Brücke über den schmalsten Punkt zu errichten, schlug fehl und kostete viele Leben.

Eines Morgens zog ein schrecklicher Taifun ohne Vorwarnung vom Meer herein. Der Fluss wurde zu einer kochenden Masse von Wellen und Schaum und die Schiffe wurden hin und her geworfen. Der Wind riss Häuser auf beiden Seiten des Flusses weg und die Wellen waren über 9 m hoch.

Inmitten dieser Turbulenzen war ein kleines Passagierschiff gefangen. Es war voll mit Familien und Händlern und wurde hin- und hergeworfen. Wellen schlugen so stark über dem Boot zusammen, dass es Nacht zu werden schien. Kinder wurden gegen die Reling geschleudert, Körbe mit Hühnern wurden vom Wind weggeweht und die Passagiere kämpften ums nackte Überleben. Aber es war aussichtslos, das Schiff ans Ufer bringen zu wollen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das Schiff von den Wellen zerschmettert würde. An Board schrieen die Passagiere um Hilfe und beteten für eine Rettung vor dem Sturm und dem wogenden Wasser.

Als das Boot sich dramatisch neigte und es schien, als ob ihre Zeit gekommen wäre, sahen die Passagiere plötzlich die Figur einer großen Frau, bekleidet mit einem wehenden weißen Gewand, welche auf dem Bug des Schiffs erschien. Sie schloss ihre Augen und erhob ihre Hände über die wilden Fluten, welche sofort zurückgingen. Sie wendete ihr Gesicht zum Wind und als sie ihre Augen öffnete verstummte der Wind und die Gewitterwolken hatten sich verzogen. Dann drehte die Frau ihr Gesicht wieder zu den erstaunten Passagieren und sie erkannten, dass es niemand anders als Kuan Yin selbst war. Voller Ergebenheit vielen sie auf ihre Knie. Kuan Yin schwebte mühelos über das beruhigte Schiff bis sie vor einer schwangeren Frau stand, die sich vor Angst immer noch an der Reling festhielt und ein leichenblasses Gesicht hatte.

Als sie sich verbeugte berührte Kuan Yin die Frau und sagte: "Fong Ts'ai, habe keine Angst und bedanke dich nicht bei mir. Du wirst einen Sohn gebären, der diesen Fluss zähmen wird. Er wird eine Brücke darüber bauen."

Mit diesen Worten verschwand Kuan Yin.

Kurze Zeit danach brachte Fong Ts'ai ihren Sohn zur Welt. Sie nannte ihn Ts'ai Hsiang. Als er aufwuchs zeigte sich, dass er ein guter und gehorsamer Sohn war. Jedes Jahr, zur Zeit als Kuan Yin im großen Sturm erschienen war, erinnerte seine Mutter ihn an das Versprechen Kuan Yins.

"Mein Sohn, nichts darf dich daran hindern diese Brücke zu bauen," sagte sie. Und der Junge nickte mit ernstem Gesicht.

Ts'ai Hsiang lernte fleißig und wurde ein brillanter Student war. Nach seinem Abschluss machte er seine Karriere durch die Positionen des Staatsdienstes, wurde von einem Amt in das nächste versetzt, bis er endlich vom Kaiser zum Premierminister ernannt worden war. Hier zeigte sich, dass er Weise und gerecht war. Er wurde mit vielen Auszeichnungen überhäuft. Aber er war immer noch unzufrieden. Immer wieder ging ihm die Geschichte von der Brücke durch den Kopf. Er hatte diese Aufgabe noch nicht in Angriff genommen und nun wurde er langsam alt. Aber jedes mal, wenn er bat, nach Fukien zurückkehren zu dürfen, verweigerte der Kaiser ihm die Erlaubnis, da er nicht einen einzigen Tag ohne die Ratschläge seines Ministers auskommen wollte.

Eines Abends ging der durch den kaiserlichen Garten voller Sorgen wegen all dem. Als er sich setzte beobachtete er eine Armee von Ameisen, die an ihm vorüber marschierte und Nahrung in ihr Nest brachten. Als er die geordneten Reihen der Ameisen sah, kam ihm eine Idee. Am nächsten Morgen schlich er sich vor Sonnenaufgang in den kaiserlichen Garten. Er versicherte Sich, dass ihm keiner gefolgt war. Dann schrieb er acht Wörter mit einem breiten Pinsel, den er vorher in Honig getaucht hatte. Als er damit fertig war, schlich er auf dem gleichen Weg wieder zurück.

Später an diesem Morgen kam der Kaiser zu seinem üblichen Spaziergang durch den Garten. Plötzlich er eine große Menge Ameisen, die vom Honig angezogen wurden. Vor Überraschung rieb er sich die Augen als er die schrecklich vielen Ameisen sah, die acht Worte formten. Dann lass er laut vor: "Ts'ai Hsiang, kehre Heim und erfülle deine Pflicht!"

In diesem Moment rannte Ts'ai Hsiang in den Garten, fiel vor dem Kaiser nieder und sagte: "Danke, vielen Dank für die Erlaubnis nach Hause zurückkehren zu dürfen."

Der Kaiser erschrak und wollte leugnen, dass er solch eine Anweisung gegeben hatte. Er protestierte uns sagte, dass er nur laut gelesen hätte. Ts'ai Hsiang unterbrach ihn und sagte: "Jedes Wort, dass eure kaiserlichen Majestät äußert, ist ein Kommando vom Himmel. Ich erzittere und gehorche!"

Da der Kaiser nicht sein Gesicht verlieren wollte, gab er die Erlaubnis. Aber er befahl Ts'ai Hsiang, dass er in zwei Monaten wieder zurück sein müsse.

Sofort als Ts'ai Hsiang zu Hause angekommen war begann er mit der Arbeit an der Brücke.

Ein großes Heer von Arbeitern wurde angeheuert und Wagen voller Steine donnerten an der ausgewählten Stelle die Ufer des mächtigen Flusses hinunter. Aber die Strömung des Flusses war so stark, dass auch die größten Steine wie Sand weggespült wurden und kein Fundament gelegt werden konnte.

Tage und Wochen vergingen. Ts'ai Hsiang war der Verzweiflung nahe, denn der Zeitpunkt, zu dem er an den kaiserlichen Hof zurückkehren musste, kam unausweichlich näher. So beschloss er, ein Schreiben an den König der Meeresdrachen zu senden und ihn zu bitten, das Wasser für drei Tage zurückzuhalten, um die Fundamente legen zu können.

Der Brief wurde aufgesetzt und mit seinem kaiserlichen Siegel versiegelt. Dann wandte sich Ts'ai Hsiang an seine Arbeiter und fragte nach einem Freiwilligen, der hinunter in das Meer geht und seine Nachricht dem König der Meeresdrachen überbringt. Nicht nötig zu sagen, dass sich keiner dafür begeistern konnte. Als die Frage nochmals ausgesprochen wurde, meldete sich ein Arbeiter mit Namen Hsia Te Hai, der nicht sehr helle war. Er hatte nicht richtig zugehört und glaubte, es werde jemand gesucht, der eine Nachricht zum Ortsvorsteher bringt. Zu spät erkannte er, was es wirklich mit dem Botengang auf sich hatte.

Eskortiert von den Soldaten Ts'ai Hsiangs persönlicher Garde, wurde er bei Sonnenuntergang zum Ufer des Meeres gebracht, wo man ihm den Brief in die Hand drückte. Hier wurde er zurückgelassen um das Erscheinen des Königs der Meeresdrachen zu erwarten oder sich vielleicht sogar selbst in den Ozean zu begeben, um ihn zu finden.

überwältigt von Furcht und Angst viel er in einen unruhigen Schlaf. Im Schlaf träumte er, dass er tatsächlich unter dem Ozean in der großen Halle des Drachenkönigs stände. Als der den König der Meeresdrachen auf seinem juwelenbesetzten Thron sah, ging ihm Hsia entgegen und warf sich vor ihm nieder.

"Mein Herr, ich, ich, ich bin Hsia ... Hsia ... ich bin ein Arbeiter und ich bringe ... dir diesen ... Brief vom Premier ... Premier ... Minister stammelte er in unterwürfigem Schrecken.

Der Drachenkönig nahm den Brief, der ihm überreicht wurde, und las ihn sorgfältig und nachdenklich. Dann wandte er sich an den zitternden Hsia und sagte: "Ich habe die Bitte des Premierministers gelesen. Es soll so geschehen, wie er es wünscht. Aber beachte meine Worte. Das Wasser soll nur für drei Tage weichen. Am vierten Tag wird es zurückkehren, egal was kommen möge. Als Zeichen meiner Zustimmung schreibe ich diese Worte auf deine Hand. Gehe jetzt!"

Hsia regte sich und streckte sich. Als er die Augen öffnete ging die Sonne auf und er lag im feuchten Sand am Meer. Als er auf seine Hand schaute, merkte er, dass seltsame Worte darauf geschrieben waren. Ohne Aufhebens rannte er direkt zum Haus des Premierministers. Er drängte sich an den Wachen vorbei und brach in das Zimmer des schlummernden Ministers ein.

"Herr, Herr, ich habe den König der Meeresdrachen gesehen. Schau, diese Nachricht gab er mir für euch."

Mit diesen Worten legte er seine Hand mit den Worten darauf auf Ts'ai Hsiangs Bettdecke. Ts'ai Hsiang lass: "Am Einundzwanzigsten um fünf Uhr nachmittags."

Am Einundzwanzigsten um fünf Uhr nachmittags war eine riesige Menge zusammengekommen um zu sehen, was passieren würde. Genau um sechs bewegten sich die riesigen Wassermassen und wichen zurück, so dass das Flussbett freigelegt wurde. Sofort strömten 1.000 Arbeiter zum Flussbett hinunter und begannen die Fundamente und die Brückenpfeiler zu errichten. Ts'ai Hsiang opferte dem König der Meeresdrachen Weihrauch und begann, den Aufmarsch seiner Arbeiter zu befehligen.

Sie arbeiteten die ganze Nacht und auch den nächsten Tag. Aber trotz ihrer größten Anstrengungen hatten sie nach 24 Stunden noch nicht einmal ein Viertel der Arbeit vollbracht. Ts'ai Hsiang war klar, dass er nicht mehr verlangen konnte, da die Arbeiter schon bis zum Umfallen arbeiteten. Was er brauchte waren dreimal so viele Arbeiter. Aber sein Geld, soviel es auch war, würde dafür nicht reichen. Voller Verzweiflung erkannte er, dass er mit dem was ihm zur Verfügung stand, die Brücke niemals rechtzeitig fertig bekommen würde, bevor das Wasser am Ende des dritten Tages wieder zurückströmen würde. Er spürte, dass er Scheitern würde und in seinen Gedanken war er wieder bei seiner Mutter und ihren Worten. Als er sich daran erinnerte, dass das Leben seiner Mutter von Kuan Yin gerettet worden war, kam ihm eine Idee. Er kniete nieder und brachte Opfergaben dar um die Göttin anzurufen.

"Kuan Yin, du welche das Leben meiner Mutter gerettet hat, du welche mir diese Aufgabe gegeben hast, höre meine Gebete, Allergütigste. Ich habe kein Geld mehr um diese Aufgabe fertig zu bekommen. Höre die Gebete deines Dieners und komm mir zu Hilfe. Göttin der Gnade, hilf mir."

Gerade als er mit dem Beten zu Ende war, erschien plötzlich ein Boot aus dem Nichts. Auf dem Bug des Bootes stand eine große Frau in einem wehenden weißen Gewand. Ihre Schönheit war so großartig, dass sogar die Sonne davon verdeckt wurde. Ihre Liebenswürdigkeit war wie der fahle Mond und ihre Sanftheit schien von ihrem Gesicht. Alle, die sie sahen, waren von dieser wunderbaren Frau bewegt. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von ihrem Erscheinen und von überall um die Ufer des Flusses herum kamen die Leute. Langsam, ganz langsam trieb das Boot den Fluss hinunter und kam dicht an die Uferböschung, auf der sich die Leute versammelt hatten.

Im Boot sitzend richtete sich die Frau an die Menge. Als sie sprach, war es, als ob die Blätter der Bäume rauschten und Ströme von klarem Wasser über Kieselsteine plätscherten. Jedermanns Herz war gefangen.

Sie sagte: "Ich verspreche denjenigen zu Heiraten, dem es gelingt ein Stück Gold oder Silber auf meinen Schoß zu werfen."

Als diese Worte gesprochen waren regnete es Goldmünzen, Silbermünzen, Schmuckstücke, Ringe und mehr auf sie herab. Aber ganz egal, wie viel Mühe sich die Leute gaben, nicht ein einziges Stück landete auf ihrem Schoß. Stattdessen viel alles auf den weiten Umhang, der sie umgab.

Bald war das Boot so voll mit Gold und Silber, das es aussah, als ob es sinken würde. Da erhob sie ihre Hand und verbot weitere Opfergaben. Dann rief sie Ts'ai Hsiang zum Boot. ängstlich kam er näher.

"Ts'ai Hsiang," sagte sie, "Ich hörte deine Gebete und ich bin gekommen um dir zu Helfen, so wie du mich gebeten hast. Nimm all dieses Geld, all dieses Gold und Silber und verwende es um die Brücke fertig zu stellen. Somit wird meine Prophezeiung erfüllt werden."

Ts'ai Hsiangs Kinnlade klappte herunter als er erkannte, dass hier vor ihm die leibhaftige Göttin Kuan Yin erschienen war. Dann verschwand sie mit einem Lächeln in einer Rauchfahne.

Ts'ai Hsiang ließ das Gold und Silber zählen. Als er wusste, wie viel er hatte, gab er den Befehl aus, noch weitere 5.000 Arbeiter einzustellen. Am Ende des zweiten Tages hatten sie ein gewaltiges Heer von Arbeitern. Er versprach ihnen den doppelten Lohn, wenn sie pünktlich fertig werden würden und schickte sie zur Arbeit.

Alle Männer arbeiteten ohne Unterlass. Stein für Stein wurde in die richtige Position gehoben, Schicht für Schicht wurde aufeinandergefügt und die Brücke begann sich über das Flussbett zu erstrecken. Eine Stunde bevor die mächtigen Wassermassen wieder entfesselt wurden war die Brücke fertiggestellt. Die Brücke von Kuan Yin war genau so gebaut worden, wie sie es vorhergesagt hatte.

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Quelle: 

Martin Palmer, Jay Ramsay, Man-Ho Kwok, "Kuan Yin - Myths and Prophecies of the Chinese Goddess of Compassion", (Thorsons, San Francisco 1995).

Aus dem Englischen von Günter Trageser.