Die Geschichte von Miao-Shan

Die älteste überlieferte Version der Legende ist in einer Chronik des Buddhismus aus China enthalten, der Lung-Hsing Fo-Chiao Pien-Nien T'ung-Lun, aufgezeichnet 1164 von Tsu-Hsiu. Die Geschichte, übernommen aus der Übersetzung von Glen Dudbridge, ist folgende:

Tao-Hsüan (596-667) befragte einmal einen göttlichen Geist über die Geschichte des Bodhisattva Kuan-Yin. Der Geist antwortete:

Es gab einmal einen König dessen Name war [Miao]-Chuang-Yen. Seine Gemahlin hieß Pao-Ying. Sie gebar drei Töchter, die älteste Miao-Yen, die zweite Miao-Yin und die jüngste Miao-Shan.

Zu der Zeit der Empfängnis von Miao-Shan träumte die Königin, dass sie den Mond verschlucken würde. Als die Zeit der Geburt kam, bebte die ganze Erde. Ein wunderbarer Duft lag in der Luft und himmlische Blumen wurden überall verstreut. Die Leute des Landes staunten. Bei der Geburt war sie sauber und frisch ohne dass sie gewaschen werden musste.

Ihre heiligen Zeichen waren ehrenwert und majestätisch, ihr Körper war ganz mit Wolken in verschiedenen Farben bedeckt. Die Leute sagten, dass dies die Zeichen für die Geburt einer heiligen Person sind. Auch die Eltern glaubten, dass sich etwas außergewöhnliches ereignete, aber ihre Herzen waren verdorben, und so verachteten sie ihre Tochter.

Als sie aufwuchs wurde sie wie ein Bodhisattva von Natur aus liebenswürdig und sanft. Sie kleidete sich einfach und aß nur einmal am Tag. Im Palast nannte man sie "die Maid mit dem Herzen eines Buddha." Durch ihren Anmut veränderten sich die Damen des Hofes. Alle wandten sich einem besseren Leben zu und entsagten ihren Begierden. Der König war eine Ausnahme und suchte nach einem Ehemann für sie. Miao-Shan, voller Bescheidenheit und Weisheit, sagte: "Reichtum und Ehre sind nicht von Dauer, Ruhm und Pracht sind nicht mehr als Schall und Rauch. Auch wenn Du mich zwingst die allerniedrigsten Arbeiten zu verrichten, werde ich mein Keuschheitsgelübde nicht bereuen."

Als der König und seine Gemahlin sie riefen ließen um sie zu überreden, sagte sie: "Ich will euren hohen Anweisungen folgen, falls es hilft drei Unglücke zu verhindern."

Der König fragte: "Was meinst du mit 'drei Unglücke'?"

Sie sagte: "Das erste ist dieses: Wenn die Menschen dieser Welt jung sind, ist ihr Gesicht hell wie der jadeglänzende Mond, aber wenn sie alt werden, wird ihr Haar weiß und ihr Gesicht faltig; in Beweglichkeit und Reaktion sind sie in jeder Hinsicht schlechter als in ihren jungen Jahren.

Das zweite ist dieses: Die Glieder eines Menschen mögen sinnlich und kraftvoll sein, er mag so geschmeidig schreiten, als ob er durch die Luft fliegen würde, aber wenn eine Krankheit ihn plötzlich befällt, liegt er im Bett ohne eine einzige Freude im Leben.

Das dritte ist dies: Ein Mensch mag viele Bekannte oder Verwandte haben, mag umgeben sein von seinen Nächsten und Liebsten, aber eines Tages kommt plötzlich sein Ende; obwohl Vater und Sohn nahe Verwandte sind, kann einer nicht den Platz des anderen einnehmen.

Wenn diese drei Unglücke verhindert werden können, so werde ich einer Heirat zustimmen. Wenn nicht, dann bevorzuge ich mich zurückzuziehen um ein religiöses Leben zu führen. Wenn jemand die volle Erkenntnis der ursprünglichen Weisheit erlangt, werden alle Unglücke von selbst aufhören zu existieren."

Der König war verärgert. Er verlangte von ihr im Garten zu arbeiten und gab ihr weniger zu Essen und zu Trinken. Auch ihre beide Schwestern gingen selbst zu ihr um ihre Meinung zu ändern, aber Miao-Shan war standhaft und änderte ihren Entschluss nicht. Als die Königin selbst sie ermahnte, sagte Miao-Shan: "In all den verwirrten Gefühlen dieser Welt ist keine geistige Befreiung. Wenn nahe Verwandte sich treffen, müssen sie sich zwangsläufig wieder trennen und zerstreuen. Nimm es wie es ist, Mutter. Zum Glück hast du meine beiden Schwestern die sich um dich kümmern. Mach dir keine Sorgen um Miao-Shan."

Die Königin und die zwei Schwestern baten deswegen den König, sie frei zu geben um ihrem religiösen Ruf zu folgen. Der König war verärgert. Er rief die Nonnen (vom Kloster des weißen Sperlings, Po-Ch'üeh Ssu) und verlangte von ihnen, sie so grob zu behandeln dass sie ihre Einstellung ändern würde. Die Nonnen waren verschüchtert und gaben ihr die schwierigsten Aufgaben - Holz und Wasser holen, arbeiten mit Stößel und Mörser und den Garten für die Küche bestellen. Durch ihre Gegenwart wuchs das Gemüse auch im Winter und eine Quelle entsprang neben der Küche.

Viel Zeit verging und Miao-Shan hielt stets an ihrer Absicht fest. Als der König von den Wundern von dem Gemüse und dem Brunnen hörte, war er wütend. Er sandte Soldaten, die ihren Kopf bringen sollten und die Nonnen töten sollten. Als sie ankamen, kamen plötzlich dichte Wolken und Nebel auf und verbargen alles. Als es aufklarte konnten sie Miao-Shan nicht mehr finden. Sie wurde von einem Geist fortgebracht auf einen Felsen an einem andern Ort um dort zu leben. Dann sagte der Geist: "Das Land ist zu karg um zu überleben." Er brachte sie dreimal an einen anderen Ort bis sie den heutigen Berg der Düfte (Hsiang-Shan) erreichten. Miao-Shan wohnte dort, aß von den Bäumen und trank aus den Strömen.

Die Zeit verging und der König wurde Krank vor Verbitterung. Sein ganzer Körper war verdorben und vereitert und er konnte nicht mehr schlafen oder essen. Keiner der Ärzte konnte ihm helfen. Er lag im Sterben als ein Mönch erschien der sagte, er könne ihn sehr wohl heilen, aber dafür benötigt er die Arme und die Augen von jemandem der frei von Zorn ist. Der König fand es extrem schwierig diesem Vorschlag gerecht zu werden. Der Mönch sagte: "Auf dem Berg der Düfte, im Süd-Westen des Gebietes deiner Herrschaft, ist ein Bodhisattva der sich zu religiösem Leben verpflichtet hat. Wenn du eine Nachricht sendest um dein Anliegen zu schildern kannst du damit rechnen diese beiden Dinge zu bekommen."

Der König hatte keine andere Wahl als einen Diener des Palastes anzuweisen diese Nachricht zu überbringen. Miao-Shan sagte: "Mein Vater zeigte Respektlosigkeit gegen die Drei Schätze, er verfolgte und unterdrückte die Wahre Lehre, er ließ unschuldige Nonnen hinrichten. Das ruft nach Vergeltung." Dann schnitt sie sich fröhlich ihre Augen aus und schlug ihre Arme ab. Als sie diese dem Diener gab, wies sie ihn an, den König zu ermahnen sich dem Guten zuzuwenden und sich nicht länger von falschen Lehren täuschen zu lassen.

Als ihm beide Dinge überbracht wurden, machte der Mönch daraus die Medizin. Der König nahm sie und wurde auf der Stelle wieder gesund. Er entlohnte den mönchischen Arzt großzügig. Aber der Mönch sagte: "Warum dankst du mir? Du solltest dem Danken, der die Arme und Augen gegeben hat." Plötzlich war er verschwunden. Der König war erschrocken von dieser göttlichen Erscheinung. Er rief nach einer Kutsche und fuhr mit seiner Gemahlin und den zwei Töchtern in die Berge um dem Bodhisattva zu danken.

Sie trafen sich und bevor etwas gesagt wurde hatte die Königin sie schon erkannt - es war Miao-Shan. Sie fanden sich in Tränen. Miao-Shan sagte: "Erinnert sich meine Dame an Miao-Shan? Im Gedenken an die Liebe meines Vaters habe ich ihm diese mit meinen Armen und Augen zurückgezahlt." Als sie ihre Worte hörten umarmten der König und die Königin sie und waren tief gerührt. Die Königin wollte Ihre Augen mit der Zunge lecken, aber bevor sie das tun konnte, wurde alles um sie herum von verheißungsvollen Wolken verhüllt, göttliche Musiker begannen zu spielen, die Erde wurde erschüttert und Blumen regneten hernieder. Und dann wurde die heilige Manifestation der Tausend Arme und Tausend Augen enthüllt, welche majestätisch in der Luft schwebte. Es waren Zehntausende anwesend. Stimmen, die das Mitleid des Bodhisattvas lobten, erhallten und erschütterten die Berge und Täler. In einem Moment nahm der Bodhisattva wieder die alte Gestalt an um dann mit großer Erhabenheit fortzugehen. Der König, die Königin und die zwei Schwestern machten einen Scheiterhaufen, bewahrten die heiligen Relikte und bauten eine Stupa auf diesem Berg.

Tao-Hsüan fragte: "Der Bodhisattva kann die Form eines Sterblichen an jedem Ort annehmen und sicher ist er nicht nur am Berg der Düfte gegenwärtig." Der Geist antwortete: "Von allen Stellen innerhalb der Grenzen von China ist der Berg der Düfte der herausragende Ort. Der Berg liegt zweihundert Meilen südlich von Berg Sung. Es ist der gleiche Berg der Düfte wie im heutigen Ju-Chou."

 

Aus dem Englischen von Günter Trageser.

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Weitere Literatur: 

Martin Palmer, Jay Ramsay, Man-Ho Kwok, "Kuan Yin - Myths and Prophecies of the Chinese Goddess of Compassion", (Thorsons, San Francisco 1995).

Glen Dudbridge, The Legend of Miao-Shan (London: Ithaca Press, 1978), pp. 25-34.

P. Steven Sangren, "Female Gender in Chinese Religious Symbols: Kuan Yin, Ma Tsu, and the 'Eternal Mother'," Signs: Journal of Women in Culture and Society, vol. 9, no. 1 (1983), pp. 4-25. 

R. A. Stein, "Avalokitesvara/Kouan-yin: Exemple de transformation d'un dieu en déesse," Cahiers d'Extrême-Asie, vol. 2 (1986), pp. 17-80.