Kuan Yin und die Schöpfung

Am Anfang der Zeiten, als die Welt jung war und alle Geschöpfe der Welt gerade neu erschaffen waren, wohnte Kuan Yin zusammen mit allen Geschöpfen auf der Erde. Zuerst lehrte sie, wie sie leben sollten, jedes entsprechend seiner eigenen Bestimmung. Sie lehrte, wie sie andere behandeln sollten und wie sie Güte gegenüber den Jüngeren zeigen sollten. Unter ihrer Vormundschaft lebten die Tiere, Vögel und Insekten glücklich zusammen. Wenn es eine Meinungsverschiedenheit gab, kamen sie zu ihr und baten um ihren Rat. Auf diese Weise war die Welt friedlich und jedes Geschöpf liebte und verehrte Kuan Yin.

Aber es kam der Tag, an dem Kuan Yin wieder in den Himmel aufsteigen musste um ihre Aufgaben dort wahrzunehmen. Die Tiere, Vögel und Insekten waren verzweifelt, als sie dies hörten. "Bitte verlasse uns nicht," riefen sie, "wer wird uns lehren und führen, wenn du nicht hier bist?"

Kuan Yin war sehr bewegt von ihren Einwänden und beschloss, noch etwas länger auf der Erde zu bleiben. Aber dann musste sie doch in den Himmel zurückkehren. Obwohl die Geschöpfe sehr traurig waren und sie nochmals baten konnte sie nicht mehr bleiben.

An einem strahlenden Sommertag, als sich alle Geschöpfe der Welt um sie herum versammelt hatten, schwebte sie auf einer Wolke hinauf zum Himmel. Die Geschöpfe blieben mit gebrochenen Herzen zurück.

Zunächst versuchten sie so weiterzuleben wie sie es von Kuan Yin gelernt hatten. Wenn Streit ausbrach dachten sie darüber nach, was sie in dieser Situation gesagt und getan hätte. Am Anfang kamen sie damit noch zu recht. Aber bald kam es zu Unstimmigkeiten und schwerwiegenden Auseinandersetzungen. Wut und Feindschaft brachen aus. Die Tiere fielen übereinander her und griffen andere an. Die Schwächeren rannten und versteckten sich vor den stärkeren Geschöpfen.

Schnell wurde das Wehklagen in der Welt so laut, dass Kuan Yin ihr Flehen nach Hilfe und Gnade vernahm. Erfüllt von Mitgefühl stieg sie zur Erde herab. Als sie erschien, kamen die unterschiedlichen Parteien mit vielen Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten zu ihr und zeigten ihr die einzelnen Fälle auf. Ein Tier beschwerte sich darüber, dass es von einem anderen gejagt wurde; einige Tiere waren davon überzeugt, dass sie das Recht hätten zu schwimmen, aber sie konnten es nicht; andere wollten fliegen können. In den nächsten Wochen behandelte Kuan Yin mit viel Geduld all die verschiedenen Beschwerden, Vorschläge und Streitigkeiten.

Am Ende dieser Zeit musste sie wieder gehen und die Geschöpfe flehten sie wieder an zu bleiben. Und wieder blieb es für eine Weile ruhig. Aber nach und nach brach die Ordnung, die sie geschaffen hatte, wieder zusammen. Tiere ärgerten sich über andere Tiere; Vögel stritten sich darüber, wer der Stärkste wäre und Insekten überfielen die Nester von anderen Insekten. Aufruhr überkam die Welt und der Lärm erreichte auch den Himmel.

Hier hörte Kuan Yin davon und als sie nach unten schaute sah sie das Durcheinander. So stieg sie schließlich wieder zur Erde hinab. Noch ein weiteres mal kümmerte sie sich um die Streitigkeiten, Erwartungen und Enttäuschungen der Geschöpfe. Nach dem einige Wochen vergangen waren war und alles geregelt war, konnte sie wieder zum Himmel aufsteigen - aber dieses mal mit der deutlichen Ermahnung, dass alle Geschöpfe nun lernen müssen ihre Probleme selbst zu regeln.

Aber es sollte nichts nützen! Nach ein paar Tagen war die Situation schlechter als zuvor. Gewalt, Betrug, Falschheit, Streit und Angst bestimmten die Tagesordnung. Das Wehklagen und Jammern, Beschwerden und Streitigkeiten der Geschöpfe wurden wieder so laut, dass sie den Himmel erreichten wo sie die Ruhe der Götter und Göttinen störten. Sie wandten sich an Kuan Yin und baten sie, die Angelegenheiten aller Geschöpfe ein für allemal zu Regeln.

Auf ihrer weißen Wolke schwebte Kuan Yin auf die Erde herab. Aus ihrer Grotte sandte sie Boten aus, die innerhalb von ein paar Stunden alle Teile der Welt erreichten und alle Geschöpfe aufforderten, sie in einer Woche zu treffen. Von Nah und Fern kamen sie alle zusammen, getragen von den Wellen, reitend auf den Winden, das Land durchstreifend. Als sich alle vor ihr versammelt hatten sprach sie:

"Oh ihr 10.000 Wesen, warum verursacht ihr soviel Leid? Warum könnt ihr nicht zusammen leben? Jeder von euch hat seinen eigenen Platz und seine Rolle. Warum seid ihr neidisch auf andere? Warum lebt ihr nicht in Frieden?"

Die Geschöpfe ließen voller Scham ihre Köpfe hängen und waren nicht in der Lage etwas zu sagen. Aber dann ergriff der Hase das Wort.

"Geliebte Kuan Yin, wenn du bei uns bist und über uns wachst, haben wir nichts zu fürchten. Es gibt keinen Streit, keinen Neid, kein falsches Streben. Aber wenn du gehst, wenn wir fühlen, dass du uns alleine lässt, fallen wir wieder in solch schlechtes Verhalten zurück. Kannst du nicht bei uns bleiben?"

Alle Geschöpfe stimmten mit ein und baten voller Demut, dass Kuan Yin sie nie mehr verlassen möge.

Kuan Yin war tief bewegt von ihrer offensichtlichen Aufrichtigkeit. Aber sie wusste auch, dass sie noch andere Aufgaben wahrnehmen musste. Das bedeutete, dass sie nicht immer auf der Erde gegenwärtig sein konnte. Wie immer war sie voller Mitgefühl und suchte in ihrem Herzen nach einer Lösung.

Plötzlich erhob sie ihre Hand und bat um Ruhe. In den Reihen der Geschöpfe wurde es still und sie warteten. Dann winkte Kuan Yin einen großen, aber eher matt aussehenden Vogel zu sich. Was diesen Vogel von anderen unterschied war vor allem die Größe und Anzahl seiner Schwanzfedern. Als er neben ihr stand sprach sie:

"Meine Freunde, es ist klar, dass ich nicht immer bei euch sein kann. Aber es ist auch klar, dass ich in irgendeiner Weise immer über euch wachen muss. Und ich habe die Lösung hierfür gefunden."

Als sie dies sagte, bewegte sie ihre Hände über ihr Gesicht und warf sie dann auf die matten, braunen Federn des großen Vogels. Plötzlich war der Vogel mit leuchtenden Farben überzogen, so hell, dass die anderen Geschöpfe ihre Augen abwenden mussten.

Als sich ihre Augen schließlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnten sie kaum glauben was sie sahen. Jeder der 100 Schwanzfedern hatte nun ein helles, leuchtendes Auge, dass auf sie schaute. Sie wendeten sich an Kuan Yin, da sie diese Veränderung verstehen wollten.

"Meine Freunde," sagte die Göttin, "ich kann nicht überall und an allen Orten über euch wachen. Aber mein Diener, der Pfau kann es. Jedes seiner Augen wird über euch wachen, euch beschützen und mir sagen was in dieser Welt geschieht. Wenn ihr die 100 Augen des Pfaus seht, dann wisst ihr, dass ich mich um jeden einzelnen von euch kümmere. Lasst den Pfau meinen Diener in dieser Welt sein und seit versichert, dass ich nach euch schauen werden."

Mit diesen Worten schwebte sie zum Himmel empor und bot den versammelten Geschöpfen einen liebevollen Abschied.

Seit diesem Tag stolziert der Pfau wegen seiner besonderen Rolle als ihr Diener. Und an jedem Tag schauen die 100 Augen eines jeden Pfaus über die Welt und erinnern all jene, die verstehen, dass Kuan Yin über sie wacht.

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Quelle: 

Martin Palmer, Jay Ramsay, Man-Ho Kwok, "Kuan Yin - Myths and Prophecies of the Chinese Goddess of Compassion", (Thorsons, San Francisco 1995).

Aus dem Englischen von Günter Trageser.